Vanitas
Geschrieben die längeren Zeilen des Lebens, 
die kürzeren mögen noch kommen. Gestemmt 
auf die Sandbank des eigenen Unrechts, im 
Versfuß besingen des Vogelflugs Rechte auf 
Erden, erlesene Zeichen verkünden, wie aus- 
schwingt in Windlust von Flügeln die warnende 
Schrift, tief beschützen den Wurm, wenn statt 
Hunger treibt Mordlust die Klauen, aus Vliesen 
von Schafen ergraben Dein warmtiefes Herz.
Mit Dir sinken, zurückgesenkt fallen zum Grund, 
in den Schlaf aller Dinge, schon manchmal es 
hören, ihr ruhiges Atmen, laut lauschen, wenn 
mitten im Leben vor Träumen sich drehen die 
Toten. Ihn wälzen, hinauf und zur Seite, den Stein.
Deinen Blicken erglauben, daß irgendwas sei.
Als ob leer keine Zeile.
Schnüre der Schrift
Geschlechter vergehen, 
und wir in Geschlechtern: 
Noch manchmal voll Zorns 
ob der Träume gen Morgen, 
im Sinkflug am Abend, 
bei Mond uns verfürchtend vor 
Strophen, diktiert von den 
Ahnen – die lauthals uns 
hören, viel tiefer als 
jegliches Ohr.
Geruchloser Umsturz
Bagdad 2003
Wie Echsen die Panzer, 
Soldaten davor. Zivilisten, 
Befreier beküssend, 
daneben viel Geifern: 
Haut ab, die ihr Babylon 
platt walzt! Die Fremden, 
wie Saurier, platschen 
bloß plump.
Verbiegt sich, im Staub liegt 
das Standbild des Schnurrbarts – 
der Eisenzeit Ketten, habt 
einmal genützt. Mischt sich 
Dunst in den Freistaub, der 
Bildschirm beschlägt nicht, 
beschweigt jähes Lechzen 
im Massengeruch.
Was fehlt mir? 
Der Leichengeruch 
meiner Eltern, die sauber 
und nachkriegsbestattet, 
geruchlos, als wär nicht, 
Sekunden vorm Einschlag 
des Himmels, bloß Panik, 
wo’s Saurier tilgt wie Tyrann.
Zerstäubt jeder 
Ursprungsgeruch aus den 
Brüsten der Mutter, als 
haßte ein Steingott uns Pack. 
Mit den Massen erwart ich 
voll Furcht jenen Treffer, 
doch fürchte zugleich, was 
die Massen verschweißt.
Meine Eltern, sie 
stinken gewiß, wie sie 
rein sich erinnerten nachts
zwischen Laken, nach 
Panzern, Palastraub, der 
Panik aus Kettenfraß, 
Raupengeklirr und dem 
Echsen verätzenden Brand.
Markiert ein Geruch 
Eure Stele, nach Angst.
Spätauslese
Inri der Kapelle –
den Weinberg voraus,
stand, im Rücken Gestein,
alles beinern, gehäuft:
     „Was Ihr jetzt,
      früher wir,
      was wir nun,
      Euer Einst.“
Denkt der Enkel, von 
Höhlen, zu tausend, gebannt:
     „Bin ich’s jetzt,
      was Ihr seid –
      werde nie,
      was Ihr wart?“
wendet rasch seinen Rücken,
zählt Reben, verblieben 
im Weinberg –
und schenkt sie im Geiste 
den Vögeln.
Einsamkeit
Ich bin in meines Namens Recht 
versammelt nachts am Tisch allein,
bereit für mich still Brot und Wein.
Was fehlt, tritt niemals ein, der Gral, 
nur Zeit läuft aus – ein Schemenkreis,
ihr sammelt Leib für Leib Euch starr
und sehnsuchtsgram am Geisterbruch. 
Vom Glauben abgefallnes Fest.
Fing an, schien Mittagslicht dazu: 
Verwunden Welt, verraten nachts.
Ins Hirnloch Liebe, Haß gesperrt,
schaun, Kinder, zu der Glieder Krampf.
Üb Gesten, Wunden wund zu sein,
längst spinn’versponnen fahrig ein.
Bis Himmel aufbricht weit ins All,
statt Deckenlast senkt sich ein Du:
Mich träumend anderswo, ich ahn‘s,
schließoffnen Augs, spür Atmen fast:
Woanders Du, verschüttend Wein, 
woanders fegend Krümel Brots 
auf Abfallstraßen still hinaus.
Im andren Namen wild steigt auf,
umzieht, vernebelt mir den Tisch
der Endgeruch von Einsamkeit.
Fragmente, die Stille, der Staub
Später befragst Du
der Mutter Impulse am Dreirad.
Im Ohr bleibt ein Nachhall, das 
Dröhnen der wandernden Schritte zu 
Seiten des Vaters, ihr Nachklang in 
Höhlen der lauschenden Unterweltsstadt,
als ihr einzogt in trauliche Plätze.
Der Nachrichten Namen des Bösen,
sie sanden, im Halse noch klirrend, Dir 
durch, bis Dich Wüste verschluckt; 
aus dem Stein, frischem Wasser des Morgens,
läufst abendlich blutend Du nach.
Dir befingern schon schwitzende Träume
wie Aas, was einst Manna Geliebter,
ihr Haß schlägt im Wachen Dir Küsse –
verdorrt auf der Schneide ihr Sehnen, 
solch Hartgras wird peitschen Dein Fleisch.
Wie sich Wölfe behüten und Lämmer,
das weißt Du im Schraubgriff der Angst,
ihr Getriebe vorm Feuer, nicht trennbar –
heult Huf mit den Lefzen des Lamms –, 
denn die Schlote des Nächsten sind nah 
wie sich Stämme im endlosen Forst.
Das Gedicht wird noch ringen zu Füßen 
des Stehpults, von Staubzeit umnetzt,
wird befragt nach dem Knarzen, dem 
tückischen Sprung, ob’s den Namen der
Spinne erriet, aller Speichen, fortuna,
des Rads.
Seite an Seite
Ich bin ein Blatt im Wind.
Wie, zweites Herz, willst fangen mich?
Bin nur Papier im Wind.
Wehst, Herzblatt, Du mir wehe fort,
wenn eint uns nicht die Schnur des Schlafs, 
sein Seidenband sich flatternd löst,
wenn wehrlos mir in Träumen schwarz 
hoch irr die Stuten Wildes tun, 
nur hämmern zu, sich wälzen satt, 
bis Angesicht bloß platter Matsch,
ein Fetzen Pusztaglück in Schmutz und 
Dreck? Steht das auf andrem Blatt?
Wenn nachts ich tief bei Müttern bin, 
ganz naß getaucht, verklebt, 
dann tags zurück in Länderzeit
verheddert häng und treib, ganz anderswo 
als einst Du flogst, am Stamm gepreßt, 
am Mühlebach im Lenz?
Durchleuchtet uns, das grelle Licht, 
entlarvt das Endgerüst:
Wir rieseln uns schon durch.   
Ich lebe für Sekunden nur, wenn 
eine Böe mich fängt, drin schwebst,
ich fall nur, zu beschreiben
des Angesichtchens Bleichpapier,
Dein lichtes Blatt im Wind:
Beblitzt vom jähen Sonnenstrahl 
im Aug nur eines Bruchwerktags,
der fern mit Abend droht.
Hörst Du das Rascheln nicht,
spürst meiner Lippen Schnitt?
Schlag auf, lies nachts
mein Testament für Dich.
Des Tones Schritt
Den Klosterhof – Du warst nur 
Schritte weit entfernt – durchschallt 
ein Glöckchen von dem kleinen Turm, 
der sich vor Zeit aufs Dach gesetzt
und Steingeschmeide blüht: Ich hätt’ 
die Fensterlippen küssen mögen, 
Bögen auf ihr Rund gepreßt, im
Schoß bloß Kinderlaub liebkost, wie’s
Eichenriesen schlafentfällt, ein Schwur 
zur Sonne, geh nicht fort: So klingt 
die Sterblichkeit, hallt nach,
Sekundenweilchen näher als ein 
Menschenschritt, tönt eins:
Such seines Fingers Hand, Gedicht,
Stafette der Unendlichkeit, brenn ihm 
dies Bild, läut Abend ein, ihm leuchte
vor, der nach mir kommt, doch 
meinen nächsten Schritt nicht kennt.
Lacrymosa               
Berlioz, Requiem, Lacrymosa
Zertreten. 
Still Gräser im Tau,
der nicht weckt. Leckt
kein Lüftchen. Stockt naß.
Zieht die Zunge jetzt ab.
Keinen Morgen umarmt mehr
solch Duft. Kurz vorm Dämmer 
zerquetscht. Quillt kaum Brei 
aus dem Kelch. Ging vorüber, 
ganz rasch. Keine Qual. Gleich
zerflossen ihr Schoß. Wuchert   
sinnlos noch Düfte zum Matsch.
Trägt der Nacht, wenn er abzieht,
der Wind trägt es aus, wie es
aufsteigt aus Fliegen und Lieben.
Charon von Warnemünde
Ach, frag doch, mein Tag,
frag den Abend, frag ihn,
der schon geht, nach dem Weg,
welcher bleibt, Deine Saiten
nimm mit in die Nacht.
Wen frag ich, mein Tag,
welcher zeigt mir den Weg,
der zum Abend ich neige,
ach, blieb’ sie, die Röte
des Lieds bis ins Meer?
Wer singt mir die Zeit,
dem der Horizont schwindet,
der gleitet, wo Wellen
sich neigen, in Seide
aus Himmel und Meer?
Wes Lied setzt mich über,
ach, singt er noch heute,
was habt Ihr verschwiegen,
mein Tag und mein Abend,
im Kahn vor der Nacht?
Florenz
Wehe Dir, Stadt, die Du 
Venus an Krämer verkaufst:  
Zugleich himmelweit Segen, 
die herzeigst mir bar ihren Leib.
Von den Berglippen ström ich 
Dir ein, bis Du aufblühest mein’,
breitest Talgrund und Schatz. 
Noch auf Tabor riech reich ich 
Dein Schamhaar, die marmorne 
Flut. Und das hochaufgestand’ne
Gedächtnis Dich preist an den 
Wind, dem zu streifen erlaubt, 
wie‘s ein Freier sich träumt: 
Leckend Knospen zu wecken, 
draus Kuppeln sich strecken – 
er saugt dran mit himmlischer 
Süße wie einer, der heimlich  
durch schweigsame Kuppen das 
Harfenspiel lernt: Sei mir Blüte 
und welk, wie sie bricht, steh mir 
auf, muschelaus, im Zenit.
Stoa von Brügge
Stille.
Rauch zieht durch die
Heiligblutkapelle.
Jesus spricht mit Kant.
Der eine, hart ans Kreuz
gerammt, mit Wunden
lösend, jener lösend
Knoten des Verstands.
Ein schönes Paar, die
beiden. Hinten steht das 
Heer der toten Juden, 
nickend mir aus Psalmen 
zu. Und Sokrates darf 
fragen. Buddha sinkt 
in seiner Ecke langsam
tiefer aus der Erde. 
Künstler zeichnen, malen
staunend, dichten Bilder
aus dem Rauch. Und ich
zieh glücklich meine
Kreise, hoff, daß nichts 
den Himmel unterbricht.  
Doch Du, der Liebe 
weises Wunder, löst mit 
Atems Weihrauch ganz
mir Rätsels Schrift.
In der Brügger Heiligblut-Kapelle wird seit den Kreuzzügen eine Reliquie
mit einigen angeblichen Tropfen vom Blut Christi aufbewahrt.
 
						  




